Sehr ungewohnte Bilder erreichten uns im Sommer aus Hongkong. Gegen das geplante Auslieferungsgesetz demonstrierten viele Menschen auf den Straßen der Metropole. Armin Reinartz, Leiter des Global Innovation Hub der Friedrich-Naumann-Stiftung in Hongkong, berichtete bei einer hochspannenden Veranstaltung im Wirtschaftsclub aus erster Hand über die aktuellen Proteste und analysierte die aktuelle politische Situation.

„Vor zwei Monaten hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich die Ereignisse in Hongkong derart überschlagen würden“, sagt Armin Reinartz zu Beginn des Abends. Die Situation in der Millionenstadt ist so dramatisch, weil sie neben London und New York die drittwichtigste Finanzmetropole ist. Die Stadt mit ihren 7,5 Millionen Einwohnern hat einen hohen Ausländeranteilund ist im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Welt sehr freizügig, wenn es um Einreiseformalitäten geht. Die meisten Nationen benötigen für Hongkong kein Visum.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung betreibt nicht nur klassische Stiftungsarbeit, sondern sie beobachtet mit dem Global Innovation Hub internationale Entwicklungen, interessante Start-ups oder behält das Thema Smart City im Blick. „Ein Trend weltweit ist, dass autokratische Regime auf dem Vormarsch sind“, so der Hongkong-Experte. „Wenn man sich Russland, Venezuela oder eben China ansieht, ist festzustellen, dass diese Regime neue Technologien nutzen, um ihre Macht zu stärken. Zukunftstrends wie beispielsweise KI werden sehr stark genutzt. Das ist erschreckend und beeindruckend zugleich.“ In China wird an Ampeln die Gesichtserkennung eingesetzt. Geht ein Bürger bei rot über die Straße, ist die Gesichtserkennung so ausgefeilt, dass das Programm Namen und Personalausweisnummer zuordnen kann, um den entsprechenden Bürger zu ermahnen. „Als Liberale stehen wir neuen Technologien aufgeschlossen gegenüber, aber wir müssen auch bedenken, welche Konsequenzen der Fortschritt haben kann“, so Armin Reinartz, der Ostasienwissenschaften in Köln und Duisburg studiert und anschließend in Peking seinen Master im Bereich Public Policy absolviert hat. Im Anschluss an sein Studium wurde er für die Naumann-Stiftung tätig, arbeitete drei Jahre in Bangkok und wurde dann als Hauptverantwortlicher mit dem Aufbau des Büros in Hongkong betraut.

Ein Land – zwei Systeme

Hongkong galt im Gegensatz zu Peking, wo politische Stiftungsarbeit so gut wie unmöglich ist, als der attraktivere Standort, da für die chinesische Sonderverwaltungszone gemäß dem Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ andere Bedingungen galten als für Festlandchina. Als Hongkong vor über 20 Jahren aus dem Status der britischen Kronkolonie entlassen wurde, ging man im Westen davon aus, dass sich China immer weiter öffnen würde und irgendwann demokratisch sei. „Aus heutiger Perspektive war es sehr naiv zu glauben, dass Hongkong zum Vorbild für ganz China würde, was Rechtsstaatlichkeit und Demokratie anbelangt“, sagt Armin Reinartz. Was aber war der Auslöser für die aktuellen Proteste? „Das Auslieferungsgesetz sieht vor, dass jede Person – auch wenn sie nur auf der Durchreise in Hongkong ist – potenziell an China ausgeliefert werden kann. Vom linken Gewerkschaftler bis zum Investmentbanker wurde dieses Gesetzesvorhaben abgelehnt. Zu dem Zeitpunkt kam es jedoch noch zu keinen Ausschreitungen“, erinnert sich der Leiter des Hongkonger Büros an die Anfänge des Protests. Bei der ersten Demonstration gingen etwa 500.000 Menschen auf die Straße, was gemessen an der Einwohnerzahl von 7,5 Millionen eine sehr große Beteiligung ist. Außerdem gibt es in Hongkong keine traditionelle Protestkultur wie etwa in Frankreich.
Bei der zweiten Demo waren es schon über eine Million Menschen, die von morgens bis abends auf den Beinen waren. Die Regierungschefin ließ mitteilen, dass sie die Besorgnis der Menschen zur Kenntnis nähme, aber dass das Gesetz nichtsdestotrotz verabschiedet würde. Erst mit dieser Ankündigung radikalisierte sich der Protest, der in der Belagerung des Parlaments mündete. So sollte die Abstimmung des Gesetzes verhindert werden. Die Polizei ging mit harten Maßnahmen vor, räumte den Platz und setzte sehr massiv Tränengas ein. Armin Reinartz, der die Demonstrationen zum Teil aus dem Bürofenster beobachten konnte, betonte aber auch, dass er sich nie wirklich bedroht gefühlt habe. Einen Hauch von Tränengas bekam er dennoch ab. „Das war extrem unangenehm. Da bekommt man eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, wenn man eine volle Ladung ins Gesicht bekommt.“

Verlust der Heimat

Als die Regierung ankündigte, dass das Gesetz zunächst eingefroren wird, hätte man meinen können, dass die Sache erledigt sei, dass die Demonstranten gewonnen hätten. Ein entsprechender Post von Armin Reinhartz endete jedoch mit einem Shitstorm. Die Demonstranten fühlten sich keineswegs als Sieger, denn die Regierung habe nicht eingesehen, dass sie falschliege. In der Folge gingen zwei Millionen Bürger auf die Straße. Die Hongkonger waren empört über das Ausmaß an Polizeigewalt. Auch Amnesty International stellte ein massives Fehlverhalten der ansonsten so professionell agierenden Polizei fest.
„In der Folge ist es für die Situation im Lande entscheidend, ob tatsächlich ernstzunehmende Untersuchungen in diese Richtung angestellt werden, um das Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen. Abzuwarten bleibt auch, ob China sich für eine militärische Intervention entscheidet.“ Es sei unwahrscheinlich, dass das passiere, aber nicht ausgeschlossen. Die Stimmung in der Metropole sei schlecht. „Ein schwerer Schatten liegt über der Stadt. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie ihre Heimat verlieren“, beschreibt Armin Reinartz seine Eindrücke. „Hongkong ist zur Frontstadt geworden. Gehört die Stadt zu China oder nicht? Damit Hongkong überleben kann, braucht sie ihren Status als freie Stadt. Das wird für China zur Systemfrage.“
Auch in Deutschland könnten die Auswirkungen spürbar werden. So wurde der CEO von Cathay von Peking gebeten, eine Liste mit allen Mitarbeitern, die sich auf ihren privaten Facebook-Accounts kritisch geäußert hätten, einzureichen. Der CEO bewies sehr viel Mut und schrieb lediglich seinen eigenen Namen auf die Liste. Abschließend warnte Armin Reinartz davor, sich von der antichinesischen Stimmung, wie sie in den USA durch Trump befeuert wird, unreflektiert anstecken zu lassen. „Ich würde mir wünschen, dass man die offizielle China-Politik kritisch beobachtet, aber nicht per se antichinesisch agiert.“

von Dr. Eike Birck

Fotos © Trade Talk