Dank der Digitalisierung könnte sich die Weltwirtschaft so genau analysieren lassen wie nie zuvor. Was es dafür braucht: eine Datenbank des globalen Lieferketten-Netzwerks. Dafür setzt sich ein Forscher der Wirtschaftuniversität Wien (WU) gemeinsam mit Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen ein.
Die globale Wirtschaft besteht aus mehr als 300 Millionen Unternehmen, die durch ein Lieferketten-Netzwerk mit insgesamt 13 Milliarden Verbindungen miteinander verknüpft sind. Lange Zeit war es undenkbar, diese weltweiten Geld- und Warenflüsse in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu analysieren – bis jetzt: „In den letzten Jahren haben wir eine wahre Datenrevolution erlebt“, sagt Anton Pichler vom WU Institut für Transportwirtschaft und Logistik. „Durch die Digitalisierung gibt es plötzlich Unmengen an Daten für ganze Volkswirtschaften. Die Frage ist nur, wie man sie nutzt.“
Gemeinsam mit einem internationalem Team aus Forscher*innen hat Anton Pichler einen Denkanstoß in der renommierten Fachzeitschrift Science veröffentlicht: Ein Zusammenschluss aus relevanten Institutionen und Wissenschaftler*innen ermögliche es, erstmals eine Datenbank der globalen Wirtschaft mit einem Großteil ihren Lieferketten zu erstellen – mit bisher ungeahnten Möglichkeiten für die Forschung.
Eine neue Daten-Ära
Eine solche Datenbank würde es etwa möglich machen, Versorgungsengpässe durch Naturkatastrophen besser zu prognostizieren. Lieferketten für essenzielle Güter wie Lebensmittel oder Medikamente könnten genau analysiert und robuster gegenüber Krisen gemacht werden, wie wir sie etwa 2020 mit COVID-19 erlebten.
Ein transparentes Lieferketten-Netzwerk wäre zudem ein wichtiger Baustein für den Umstieg von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern: „Meine Forschung beschäftigt sich mich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Energiewende“, erklärt Anton Pichler, „dabei werden viele neue Lieferketten geknüpft, während sich manche bestehenden Lieferketten auflösen werden. Für präzise Abschätzungen der wirtschaftlichen Konsequenzen braucht es aber ein wesentlich besseres Bild von Zulieferabhängigkeiten zwischen Unternehmen.“
Zur langen Liste an Vorteilen, die Anton Pichler aufzählt, gehört auch die Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung. Oder mehr Transparenz, wenn es um die Einhaltung von Menschenrechten entlang von Lieferketten geht. Und: Ökonom*innen hätten damit eine solide Datengrundlage, um bessere Prognosen zu machen und wirtschaftspolitische Maßnahmen exakt beurteilen zu können – etwa zur Bekämpfung von Inflation.
Mehrwertsteuer als Schlüssel
Doch woher sollen alle diese Daten kommen? In erster Linie sind es Mehrwertsteuerdaten, die in immer mehr Staaten auf Unternehmensebene gesammelt werden, zum Beispiel mittels flächendeckendem E-Invoicing, also elektronischer Rechnungseinbringung. Unter ihnen finden sich europäische Länder wie Belgien, Ungarn und Spanien, aber auch Schwellen- und Entwicklungsländer wie die Türkei, Chile und Kenia. Österreich fehlt derzeit noch in dieser Liste.
„In reichen Ländern wie Österreich gibt es schon etablierte Verwaltungssysteme, darum dauert es oft länger, neue Dinge durchzusetzen“, erklärt Anton Pichler. „Weniger wohlhabende Länder haben meistens eine schlanke Verwaltung und können dadurch schneller neue Systeme etablieren.“ Für die einzelnen Staaten hat es allerdings handfeste Vorteile, diese Daten auf der Ebene von Lieferverbindungen zwischen Unternehmen zu sammeln: Als Peru etwa im Jahr 2013 verpflichtendes E-Invoicing einführte, stiegen die Mehrwertsteuer-Einnahmen schon im ersten Jahr um fünf Prozent, wie eine Studie des Internationalen Währungsfonds zeigte.
Es ist also anzunehmen, dass in Zukunft immer mehr Staaten die Mehrwertsteuer so erheben, dass sich daraus einzelne Lieferverbindungen rekonstruieren lassen. Die EU-Kommission arbeitet zudem daran, einen internationalen digitalen Standard zu setzen: Mit der Initiative ViDA („VAT in the Digital Age“) gibt es seit 2022 eine Initiative für eine EU-weite Modernisierung der Mehrwertsteuer.
Trotzdem werde es immer Lücken im Datennetz geben, erklärt Anton Pichler von der WU. Komplexer sei die Sache etwa in den USA, der weltgrößten Volkswirtschaft, weil es dort keine einheitliche Mehrwertsteuer gibt. Und dann sei da noch die zweitgrößte Volkswirtschaft China, die sich in solchen Fragen üblicherweise wenig kooperativ zeigt. Daher sei es nötig, Datenlücken zu rekonstruieren – etwa über Transaktionsdaten von Zahlungsdienstleistern und Banken, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz analysiert werden.
Sicherheit für sensible Daten
Ein wichtiger Aspekt der Initative ist der Datenschutz. Schließlich handelt es sich um potenziell sensible Daten, die strategische Business-Interessen betreffen und für viel Geld verkauft werden könnten. „Eine derartige Datenbank braucht höchste Datenschutz-Standards. Dabei könnte man sich ein Beispiel nehmen an Mikrodatenzentren oder dem European Health Data Space, die einen kontrollierten Zugang zu anonymisierten Daten für Forschungszwecke ermöglichen“, sagt Anton Pichler.
Nach Einschätzung des WU-Forschers ist es sehr wahrscheinlich, dass in den kommenden Jahren weitere Teile des globalen Liefernetzwerks rekonstruiert werden – auf Initiative von Staaten, Forschungsgruppen und privaten Unternehmen. „Daher ist es wichtig, die Debatte zu führen, wie wir diese Daten für die Gesellschaft nutzbar machen, und nicht nur für die Interessen Einzelner.“
Quelle: Studie „Die Vermessung der Wirtschaftswelt“ von Anton Pichler
Fotos: © pixabay und Porträt © Wirtschaftsuniversität Wien