Opportunismus statt Wahrhaftigkeit? Hans-Ulrich Jörges, seines Zeichens Stern-Chefredakteur, referierte beim Dinnertalk im Wirtschaftsclub Düsseldorf über neue Entwicklungen in der Medienwelt und übte dabei scharfe Kritik an seiner eigenen Branche. Bei seinem Vortrag mit dem Titel „Wenn Wölfe heulen – die neue Welt der Medien“ monierte er, dass insbesondere Journalisten der überregionalen Zeitungen und Fernsehsender zunehmend Schönfärberei betreiben und gegen ihre Recherchepflichten verstoßen.

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Stern-Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges © Stefanie Siegel

Es waren beeindruckende Bilder eines historischen Moments, die die Menschen auf der ganzen Welt zutiefst bewegten: Arm in Arm führten dutzende Staats- und Regierungschefs an jenem Tag im Januar den historischen Gedenkmarsch für die Opfer der islamistischen Anschläge in Paris an. Dabei verschwiegen die berichtenden Medien aber zunächst, dass die Politiker nicht – wie suggeriert – in der ersten Reihe der 1,5 Millionen demonstrierenden Franzosen durch die Innenstadt gelaufen sind: Der sogenannte Marsch der Mächtigen wurde in einer abgesperrten Seitenstraße inszeniert. „Dieser Eindruck war ein falscher Eindruck und so etwas darf nicht versteckt werden“, sagt Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Stern-Chefredaktion, mit bestimmter Stimme und nennt dieses
Ereignis als Beispiel für eine zunehmende „Schönfärberei“. „Wir alle betrachten die Welt durch die Medien, das sind unsere Augen“, führte der Journalist aus. Im Gegensatz zu den Dingen die im eigenen Umfeld wahrgenommen werden, müsse man sich beim Rest der Weltbetrachtung auf die Medien verlassen können. Statt Unbefangenheit, Wahrhaftigkeit und die Entschlossenheit, nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten und zu kommentieren, mache er aber zunehmend Schönfärberei, Opportunismus, Oberflächlichkeit, Gedächtnisverlust und einen Verstoß gegen Recherchepflichten aus. „Ich glaube, dass wir bei der kritischen Betrachtung der Medien immer größere Probleme haben, diese Unbefangenheit und Wahrhaftigkeit noch herzustellen.“ Genau diese „gefährlichen“ und „kritikwürdigen“ Seiten der medialen Entwicklung standen im Fokus seines Vortrags „Wenn Wölfe heulen – die neue Welt der Medien“ beim Dinnertalk.

Mediale Mobilmachung

Die Gäste im Wirtschaftsclub lauschten aufmerksam den deutlichen Worten. Seine Kritik untermauerte Jörges dabei mit zahlreichen Beispielen. So berichtete er unter anderem über die Mahnwache am Brandenburger Tor in Berlin nach den Anschlägen in Paris, zu der der Zentralrat der Muslime und die türkische Gemeinde in Berlin aufgerufen hatten. Er selbst war bei der Veranstaltung anwesend, um herauszufinden, wie viele Menschen zur Kundgebung kommen würden. „Unter den offiziell genannten 10.000 Besuchern, waren nach meiner Schätzung wenige Hände voll Muslime. Davon haben Sie am nächsten Tag aber nichts in den Zeitungen gelesen oder in Funk- und Fernsehen gehört“, so Jörges. „Das wäre in der Berichterstattung aber ein Muss gewesen.“ Als weiteres Beispiel führt er den Ukraine-Konflikt an, den er stets als eine mediale Mobilmachung gegen Russland wahrgenommen habe. „Eine solch einseitige Berichterstattung zu einem internationalen Konflikt habe ich bisher noch nicht erlebt.“ Zwar sei der Konflikt durchaus von Russland ausgelöst worden, doch erfahre man in den Medien fast nichts über die ukrainische Seite. Es dürfe nicht unterschlagen werden, dass in der relativ schwachen Armee des Staates Verbände von Rechtsextremisten eingegliedert und dort militärisch relativ stark sind. „In einem solchen Konflikt gibt es zwei Seiten, die wir gefälligst beide angemessen kritisch betrachten müssen. Und der Leser, Hörer, Zuschauer kann sich dann selbst eine Meinung bilden. Aber, dass wir eine Seite komplett ausblenden, ist nicht in Ordnung.“

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Skandalisierung, Emotionalisierung, Boulevardisierung
Jörges brachte klar zum Ausdruck, dass sich Journalisten, seiner Ansicht nach, oftmals kollektiv auf eine Seite schlagen. So kritisierte er beispielsweise Grenzüberschreitungen bei der Berichterstattung über die Lokführerstreiks und den GDL-Chef Claus Weselsky, den medialen Umgang mit Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück oder dem ehemaligen Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst sowie das Nichtthematisieren der Rolle der Türkei beim Islamischen Staat. Dabei gehe es ihm nicht um einzelne Fehlleistungen, sondern um unbewusste, inzwischen fast automatisch ablaufende Prozesse in den Medien, die das öffentliche Leben, unsere Wirklichkeit und die Gesellschaft rasant verändern. „Diese konterkarieren den Aufklärungsauftrag der Medien und viele Menschen spüren, dass etwas nicht mehr stimmt. Die kritische Haltung den Medien gegenüber wächst“, sagt der Kolumnist und fragt: „Warum ticken Journalisten heute so? Und vor allem: Warum ticken fast alle gleich?“ Als Urknall dieser Entwicklung nennt er die Wulff-Affäre. „Die Haltung in den Redaktionen war: Wir bestimmen, wer regiert. Es gab nicht mehr die Haltung: Wir kritisieren, schlagen vor oder regen an. Vielmehr lautete das Motto: Das wollen wir doch mal sehen.“ Täglich hagelte es Vorwürfe gegen den damaligen Bundespräsidenten und von allen Seiten kamen immer wieder neue dazu. Hans-Ulrich Jörges nennt das „Rudel-Journalismus“: „Alle rennen in die gleiche Richtung, alle jagen bis zur Besinnungslosigkeit, alle schreiben voneinander ab. Und nur wenige schwimmen gegen den Strom.“ Die Medien seien zunehmend in mächtigen Erregungswellen vereint. Skandalisierung, Emotionalisierung, Boulevardisierung sieht er als Segel unter denen sie dahinjagen. Dabei bleiben jedoch journalistische Redlichkeit, ethische Standards und der Aufklärungsauftrag auf der Strecke.

Online Medien als Meinungsführer
Grundsätzlich macht er drei Ursachen für den „Rudel-Journalismus“ aus: Zum einen zählt dazu die Auflösung der ideologischen Lager unter den Medien mit dem Ende des kalten Krieges, die weniger Meinungsvielfalt zur Folge hat. „Früher konnte man sicher sein, dass jede Haltung die ein Blatt, ein Sender oder ein Journalist eingenommen hat, Widerspruch fand; heute herrscht Konformität.“ Darüber hinaus spielen auch die Medienkrise und der Kampf um Auflagen eine Rolle. „Es wird gespart in den Printmedien. Redaktionen werden ausgedünnt und immer weniger müssen immer mehr machen“, erklärt der Experte. Das verlocke zum Abschreiben, zum Verzicht auf Recherche und zum Übernehmen von Ergebnissen anderer. Aus seiner Sicht, gibt es aber einen noch wichtigeren Grund für die Entwicklung in seiner Branche: Die neue Hierarchie, in der Online-Medien Meinungsführer sind. „Der Echtzeit-Journalismus nimmt sich keine Zeit mehr zum Nachdenken. In zehn Minuten muss alles eingeordnet, bewertet und zugespitzt sein“, so Jörges. Friede sei langweilig, das klicke niemand an. „In immer dichterer Folge werden die Säue durchs Dorf getrieben – und die Säue werden immer fetter. Alle werden geschlachtet, aber keine wird vollständig verarbeitet.“ Das sei auch nicht mehr die Absicht. Stattdessen herrsche Dauerhysterie. Doch was kann man diesem Rudel-Journalismus entgegnen? „Betroffene“, sagt Jörges, „müssen sich wehren, Verantwortliche in den Medien müssen Nerven, Verstand und vor allem Haltung bewahren und die Haltung muss der Kern jeder Journalistenausbildung sein. Nur der Journalismus selbst, der das Rudel geschaffen hat, kann es auch wieder auflösen.“ Seinen Zuhörern rät er, gelegentlich einfach mal abzuschalten, sich aus-
zuklinken und vor allem selbst zu denken, statt denken zu lassen.

von Jessica Hellmann